1880: Zucht und Zuwendung

„Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Waisenhaus“

So drohten gelegentlich noch im 20. Jahrhundert Ellwanger Eltern ihren Kindern, wenn sie mit ihnen nicht mehr zurecht kamen. Daß es  im 19. Jahrhundert ein schweres Schicksal bedeutete, Waisenkind zu sein,  mögen folgende Berichte aus dem Jahre 1880 zeigen:

„Die Kinder trugen Anstaltskleidung. Das Schuhwerk war sehr rau. Jeden Werktagmorgen gab es Schwarzbrotsuppe, am Sonntag mit verdünnter Milch aufgekocht, nur an Hochfesten Kaffee mit Schneckennudeln. Zum Mittagessen gab es Kartoffeln oder Spätzle mit Gemüse. Dreimal wöchentlich einen Esslöffel mit zerschnittenem Fleisch, am Freitag bayerische Knödel. Das Abendessen bestand gewöhnlich aus schwarzer Brennsuppe, das Vesper aus einem Stück Schwarzbrot. Butter oder Marmelade gab es nicht.“

„Das Hauspersonal bestand außer dem Hausvater und seiner Frau aus einem Stallknecht, einem Tagelöhner, einer Nähterin, einer Küchen- und einer Stallmagd. Die ganze Familie aß täglich im allgemeinen Speisesaal.“

„Die Hausordnung war militärisch streng. Sogar die Handhabung des Waschlappens wurde schichtweise und turnmäßig kommandiert. Genußmitteldiebstahl oder Trotz gegen die Erzieher wurden mit Stockhieben oder Versperentziehung bestraft. Für Fluchtversuche gab es Dunkelarrest bei Wasser und Brot  im Krankenzimmer.“

 

Es muß allerdings auch gesagt werden, dass die Hauseltern alles menschenmögliche taten, um Leid zu lindern:

„Anfang 1880 brach eine Diphterie-Epidemie aus. Da überließ die Hausmutter ihre eigenen Kinder dem Hausvater, um sich mehrere wochenlang zur Pflege der schwerkranken Waisenkinder isolieren zu lassen, auch auf die Gefahr hin, selbst Opfer der Krankheit zu werden. Damals starben vier Kinder, fünfzehn weitere waren sterbenskrank.“

 

"Ordensschwestern müssen kommen" - ein erster und mißglückter Versuch

Kaplan Eberhard erinnert im Verwaltungsrat im Jahr 1908 noch daran, dass die Frage, Ordensschwestern anzustellen, bereits ihre Vorgeschichte hat:

„Unter Hausvater Krieg (1866 - 1876) geriet die Marienpflege in schwerste Bedrängnis. Infolge Alters und Krankheit war er seiner schweren Aufgabe nicht mehr gewachsen. Die Kinderzahl war von nahezu 80 auf 37 zurückgegangen, weil die belegenden Oberämter Bedenken hatten, Kinder in die Anstalt zu bringen, die unter seiner Leitung einen sehr schlechten Ruf hatte. Wo immer in der Stadt Bubereien angestellt wurden, wurden die Waisenkinder verdächtigt. Auch die Mitarbeiter taten, was sie wollten. Anfang 1876 ist deshalb Hausvater Krieg an die Schulstelle in Deuchelried gegangen.“

Und dann zitiert er aus dem Verwaltungsratsprotokoll vom 22.02.1876 wie folgt: „Die gegenwärtige Vakatur soll dazu benützt werden, eine Reorganisation der Anstalt herbeizuführen, sei es, dass dieselbe der Verwaltung der Barmherzigen Schwestern übergeben, oder sie ganz in eine Privatanstalt verwandelt würde.“

Die Amtsversammlung Ellwangen beschließt am 19./20. Juni 1876 diese Reorganisation und überlässt es dem Verwaltungsrat, die Berufung der Barmherzigen Schwestern einzuleiten, vorausgesetzt, dass hiermit eine Kostenersparnis eintrete. Der künftige Hausvater hatte sich nach diesem Beschluss den Folgen der Reorganisation d.h. der Kündigung zu unterwerfen. Dieser Vertrag kam nie zustande, weil das in Aussicht genommene Mutterhaus in Reute wegen Schwesternmangels und wegen der geschilderten Missstände nicht auf das Angebot einging. Ferner auch, weil der Nachfolger Hausvater Drexler die Marienpflege binnen kurzem wieder zu neuer Blüte gebracht hatte.