Gut vorbereitet
Der äußere Neubau war endlich fast vollendet. Wird auch der innere gelingen? Wenn man den Schriftverkehr und die Protokolle von 1908 betrachtet, scheint es, als ob Kaplan Eberhard seinen überraschenden Schritt mit niemand besprochen hat, weder mit dem Verwaltungsrat, noch mit den amtlichen kirchlichen Stellen, noch mit der königlichen Regierung. Nur mit dem Mutterhaus scheint er frühzeitig Sondierungsgespräche geführt zu haben, wie das schon zitierte Schreiben vom 21. Januar 1908 an die wohlehrwürdige Frau Oberin von Sießen verrät: „Herzlich danke ich Ihnen dafür, dass Sie sich bereit erklärten, die Pflege der Kinder etc. im bisherigen Waisenhaus auf ein evtl. Gesuch des Verwaltungsrats übernehmen zu wollen. Am nächsten Freitag kommt mein diesbezüglicher Antrag im Verwaltungsrat zur Beratung und ich hoffe, dass er glatt durchkommt. Ihm kommt dafür sehr der Umstand zugute, dass die vor einem viertel Jahr zuvor eingestellte Lehrerin vor einigen Tagen auf und davon gegangen ist. Ich ringe und kämpfe nun schon jahrelang um die Reorganisation des Waisenhauses. So Gott will, ist es bald erreicht. Sie dürfen überzeugt sein, dass ich alles tun werde, damit Ihre Schwestern im neuen Waisenhaus eine Position bekommen werden, die von Unzuträglichkeiten frei ist. Nochmals um Zusage bittend, zeichnet mit herzlichem Gruß im Herrn ergebenst Kaplan Eberhard.“
Die Schwester Oberin und der Superior äußerten ihm gegenüber Bedenken, eine sofortige Zusage geben zu können: „Die Übernahme des Waisenhauses durch die Schwestern ist nach Ansicht der königlichen Regierung die Gründung eines neuen Filials in Ellwangen. Dazu bedürfen wir der Genehmigung der königlichen Regierung, die wir eigens erbitten müssen unter Angabe der Gründe und der notwendigen Personen für Unterricht und Haushalt. Dazu müssen wir die Sicherheit haben, dass der Verwaltungsrat die Berufung unseres Personals wünscht und diese Bitte der Oberschulbehörde eingesendet hat, ebenso wieviel und welches Personal notwendig ist. Wir haben diese Bedenken schon einmal angeregt, aber bis jetzt noch keine Antwort erhalten.“ Diese verzögerte sich vermutlich deshalb, weil er sein Anliegen mit dem Verwaltungsrat noch gar nicht besprochen hatte.
Den Antrag um Anstellung von Schwestern stellte er erst am 24. Januar 1908. Dann aber ging es sehr schnell. Schon einen Tag später, am 25. Januar 1908, schrieb der Vorstand der Marienpflege Entreß ans Kloster Sießen: „In gestriger Sitzung des Verwaltungsrats wurde einstimmig beschlossen, Ordensschwestern Ihrer Kongregation zur Pflege der Zöglinge, zum Unterricht in der oberen Schulklasse und zum Handarbeitsunterricht für Mädchen anzustellen. Behufs Anbahnung weiterer Verhandlungen möchten wir uns die Frage erlauben, ob Sie und evtl. unter welchen Bedingungen geneigt wären, uns die nötige Anzahl von Schwestern für unsere Anstalt zu überlassen?“
Umgehend schrieb am 29. Januar 1908 das Kloster an den Katholischen Kirchenrat nach Stuttgart: „Wir bitten um die vorläufige Mitteilung, ob überhaupt Aussicht vorhanden ist, dass wir die im Herbst dieses Jahres beabsichtigte Übernahme der Marienpflege in Ellwangen übernehmen und das hierzu notwendige Filial errichten dürfen? Superior Müller.“
Der Katholische Kirchenrat antwortete dem Kloster Sießen sehr schnell. Am 07. Februar 1908 antwortet er auf den Antrag vom 29.01.1908 an die Kongregation von Sießen: „Bezüglich der Anfrage, ob Aussicht vorhanden ist, dass eine Niederlassung der Schulschwestern an der Marienpflege in Ellwangen genehmigt werde, kann ein Bescheid nicht erteilt werden, da die Genehmigung dieser neuen Niederlassung seitens des Königlichen Ministeriums des Kirchen- und Schulwesens wesentlich von der Begründung abhängig sein wird, auf welcher ein etwaiges Gesuch des Verwaltungsrats der Marienpflege um Genehmigung dieser Niederlassung beruht. Wegen der zahlreichen Fürsorgezöglinge, welche in der Anstalt untergebracht werden, werden in dieser Frage auch noch andere Instanzen beteiligt sein. Erlenspiel.“
Diese Antwort des Katholischen Kirchenrates leitete das Kloster Sießen am 15.02.1908 umgehend an den Vorstand des Verwaltungsrates der Marienpflege mit folgendem Beischreiben weiter: „Auf die geschätzte Zuschrift vom 25.01.1908 betreffs der Entsendung von Ordenspersonen an die Marienpflege beehren wir uns, nachstehendes zu antworten: Schon vor Empfang der genannten Zuschrift haben wir die Königliche Oberschulbehörde um Auskunft gebeten, ob ein Gesuch, im Herbst 1908 die Anstalt im Sinne des Schreibens vom 25.01.1908 übernehmen zu dürfen, Aussicht auf Gewährung habe. Die Antwort, die uns am 10.02. zugekommen ist, legen wir in beglaubigter Abschrift bei. Aus derselben möge der verehrliche Verwaltungsrat entnehmen, welche Schritte von ihm zur Erreichung der gesteckten Ziele zu tun sind. Ist dem Verwaltungsrat von den staatlichen Instanzen die Berufung von Ordenspersonen gestattet, so kann erst vom Kloster aus die Bitte an die Regierung gestellt werden, zum Zweck der Übernahme der Marienpflege ein weiteres Filial gründen zu dürfen. Unterdessen versprechen wir, dafür zu sorgen, dass die entsprechende Anzahl von Lehrerinnen etc. für die Marienpflege verfügbar werde. Hochachtungsvoll Superior Müller
Maria Bonaventura Glöggler OSF, Oberin.”
Ist es nicht erstaunlich, wie rasch der Antrag der Marienpflege vom 25.01.1908 innerhalb von nicht ganz 3 Wochen in den verschiedensten Instanzen behandelt worden ist, ganz im Gegensatz zum 8jährigen Verhandeln mit den Ministerien betreffs des Neubaus?
Doch nun erfolgte eine kleinere Pause. Erst am 2. Mai 1908 wendet sich Vorstand Entreß ans Kloster Sießen und bittet um Zusendung des Entwurfs des Gestellungsvertrages: „Auf das Gesuch um Zulassung von 6-8 Schwestern in unsere Anstalt verlangt der Katholische Kirchenrat die Vorlage des Vertrages über die Schwestern. Wir möchten um gefällige, umgehende Übersendung des Vertragsformulars gebeten haben, evtl. Ihnen anheim geben, ob nicht jemand von Ihnen in den nächsten Tagen zum Abschluss des Vertrages hierher kommen könnte? Entreß“.
Der Vertragsentwurf wird vom Kloster Sießen am 07. Mai 1908 zur Beurteilung nach Ellwangen übersandt: „Im Anschluss beehre ich mich einen Entwurf zum gewünschten Vertrag vorzulegen. Derselbe soll nur ein unmaßgeblicher Vorschlag sein, den ich vom Standpunkt der Marienpflege zu beurteilen bitte. Ich ersuche Abänderungsvorschläge mir mitzuteilen, worauf ich zur endgültigen Festsetzung nach Ellwangen zu kommen bereit bin. Hochachtungsvoll Dekan Müller Superior.“
Am 14. Mai 1908 wird der Vertrag von Superior Müller und dem Verwaltungsrat einstimmig unterzeichnet und dem Katholischen Kirchenrat zur Genehmigung vorgelegt. Der Vertreter des Katholischen Kirchenrates Regierungsrat Dr. Kottmann nahm am 13. Juli 1908 persönlich an der Verwaltungsratssitzung teil. Zuvor visitierte er die Heimschule und besichtigte das neue Waisenhausgebäude. In der Verwaltungsratssitzung erklärte Dr. Kottmann, dass der abgeschlossene Gestellungsvertrag wohl nur dann die Genehmigung des Ministeriums erhalten könne, wenn er dahingehend abgeändert würde, dass in Zukunft drei Schulklassen gebildet werden. Die Kinder des ersten bis dritten Schuljahres und die Mädchen des vierten bis siebten Schuljahres sollten je von einer Schulschwester unterrichtet werden, die Knaben des vierten bis siebten Schuljahres jedoch vom Hausvater selber.
Die Zustimmung der Kongregation von Sießen wurde sofort telefonisch eingeholt, so dass bereits am 22. Juli das Königliche Ministerium des Kirchen- und Schulwesens für die Berufung von Schwestern aus der Kongregation zu Sießen an die Marienpflege in Ellwangen bis zur Höchstzahl von acht Schwestern die staatliche Genehmigung erteilte. Das Ministerium ging hierbei davon aus, dass die Ordensschwestern weder die Pensionsberechtigung noch Dienstalterszulagen erhalten können, auch wenn sie die Bedingung zur Anstellung am öffentlichen Volksschuldienst erfüllen. Ferner wird noch bestimmt, dass die Schule wie jede andere Volksschule den gesetzlichen Bestimmungen unterliegt. Am 10. August übergab der Vorstand der Marienpflege diesen Erlass des katholischen Kirchenrates der Kongregation von Sießen.
Mit dem Neubau beginnt ein Segen
War die Erstellung des heutigen Hauptgebäudes ein Werk des gesamten Verwaltungsrats, so wird die Sitzung vom 24. Januar 1908 ganz von einer persönlichen Initiative des Kaplans bestimmt:
„Der Verwaltungsrat wolle beschließen und die erforderlichen Schritte tun, dass bei der infolge des Neubaus notwendig werdenden Vermehrung des Pflege- und Aufsichtspersonals Ordensschwestern angestellt werden“.
Diesen Antrag begründet er klar und zukunftsorientiert:
„Sobald das neue Anstaltsgebäude bezogen ist, wird sich die Anstellung weiteren Personals zur Pflege, Erziehung und Beaufsichtigung der Pfleglinge als unabweisbares Bedürfnis nicht länger umgehen lassen. Schien schon seither die Arbeits- und Pflichtenlast, welche auf den Hauseltern liegt, über ihre Kräfte hinaus zu gehen, so wird das künftig in gesteigertem Maße der Fall sein. Denn dann wird sich ihre Sorge nicht nur auf 1 Anwesen, sondern auf 2 Komplexe erstrecken. Dazu kommt ferner, dass die Zahl der Zöglinge von bisher 60 - 70 auf 100 vermehrt werden soll. Eine Höchstzahl, die dem Verwaltungsrat aus finanziellen Gründen und im Interesse der Ausnützung des neuen Gebäudes am Herzen liegen muss, die aber einen erheblichen Arbeitszuwachs bringen wird. Würden endlich noch die schulentlassenen Buben während ihrer Lehrzeit im alten Anstaltsgebäude untergebracht werden, so könnte diese vermehrte Aufgabe ohne weiteres Personal nicht mehr bewältigt werden. Es fragt sich aber, woher und welcher Art dieses neue Personal sein soll? Meines Erachtens kann es sich nur um die Anstellung von Ordensschwestern handeln. Es ist dies auch die Anschauung der weitesten und verschiedensten Kreise in und um Ellwangen. Und dies mit Recht, denn es wird selbst von Gegnern des Ordenswesen anerkannt, dass die Schwestern zur Pflege und Erziehung die erforderlichen Qualitäten in reichem Maße besitzen. Und billigere Arbeitskräfte - der Verwaltungsrat wird angesichts der Schuldenlast diesen Gesichtspunkt sehr in Erwägung zu ziehen haben - werden wohl auch nicht zu bekommen sein. Endlich wäre auf diese Weise auch dem besonders in den letzten Jahren allzu häufigen und misslichen Wechsel im Lehrpersonal vorgebeugt.“
Kaplan Eberhard spielt hier auf die Vorgänge um einen Hilfslehrer an, der wegen eines Sittlichkeitsvergehens von einer Unterlehrerin abgelöst wurde: Hausvater Herschlein brauchte wieder einmal dringend einen Lehrgehilfen, der ihn in der Unterrichtung der 72 Waisenkinder unterstützen konnte, denn in den turbulenten Jahren der Bauplanung und des Bauens war der Wechsel der Lehrgehilfen häufig gewesen. Im Dezember 1906 wurde der neue Lehrer angestellt. Bereits ein dreiviertel Jahr später kündigte er mit den Worten, „dass ihn innere Verhältnisse leider mit unabweisbarer Notwendigkeit zwingen, die Anstalt zu verlassen“. Sein Bedauern war nicht geheuchelt, denn er saß für Jahre im Zuchthaus, weil er sich an minderjährigen Zöglingen des Waisenhauses vergangen hatte. Der katholische Kirchenrat, dem dieses Vorkommnis umgehend mitgeteilt worden war, empfahl seine Stelle mit einer Lehrerin zu besetzen. Doch auch sie kündigte schon nach zwei Monaten im Januar 1908, „da ihr die Verhältnisse dieser Anstalt nicht gefallen“.
Abschließend legte Kaplan Eberhard seine Gedanken zur neuen Organisation vor: Hausvater Herschlein wird als Hauslehrer angestellt und teilt sich mit Sr. Oberin die Erziehung der Kinder, ist für den Bauernhof verantwortlich und führt die Korrespondenz. Den Schwestern wird das neue Haus angewiesen. Sie tragen Verantwortung für die Erziehung und Pflege, sowie für den Unterricht in 2 Klassen. Die obere 3. Klasse für Buben unterrichtet Lehrer Herschlein selber. Als Vergütung schlägt er pro Schwester jährlich 125 Mark vor und schließt dann: „Ich glaube, die äußeren und inneren Verhältnisse unserer Anstalt sind nach allen Seiten dazu angetan, obigen Beschluss von 1876 wieder aufzunehmen und zu revidieren, was mein Antrag bezwecken möchte. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass mich einzig und allein das Interesse für das Wohl und Wehe der Anstalt, das ja dem ganzen Verwaltungsrat ebenso am Herzen liegt, geleitet hat. Und meine Ausführungen sind in der Sache niemand zu Lieb, aber auch niemand zu Leid erfolgt. Kaplan Eberhard.“ Dieser Antrag wird vom Verwaltungsrat einstimmig angenommen.
Am 8. Mai 1911 war Kaplan Eberhard zum letzten Mal im Verwaltungsrat anwesend. Der Vorsitzende bescheinigte dem neuen Pfarrer vom Schönenberg, dass er sich nicht nur als Katechet, sondern auch durch seine eifrige Tätigkeit als Mitglied des Verwaltungsrats insbesondere bei der Erstellung des Neubaus große Verdienste erworben habe. Seiner Anregung sei es zu danken, dass Ordensschwestern an die Anstalt berufen worden seien. Wegen seiner hervorragenden Verdienste um die Marienpflege wird er einstimmig zum Ehrenmitglied des Verwaltungsrats ernannt.
Was die Entscheidung, dass Sießener Schwestern nach Ellwangen kamen, für die Marienpflege im 20. Jahrhundert bedeutet, ist nicht zu überschätzen. Insbesondere heute, wo die geistige Orientierungslosigkeit vieler qualifizierter Kräfte eine christliche Erziehungsarbeit sehr erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht und wo tarifliche und arbeitsrechtliche Vorstellungen der Mitarbeiter den primären Bedürfnissen der Kinder oft total zuwiderlaufen können. Kaplan Eberhard hat für die Marienpflege des 20. Jahrhunderts entscheidende Weichen gestellt.