
Viel Not - und noch mehr Mut und Entschlossenheit
Als Kaplan Eberhard 1901 in der Marienpflege zu wirken begann, war sie schon 70 Jahre alt. Diese Jahre sind etwa so zu umschreiben: Ein Hausvater war für die 50-80 verwaisten oder verwahrlosten Kinder verantwortlich. Diese lebten in einem ehemaligen Kapuzinerkloster, das König Wilhelm I. unentgeltlich für ein Waisenhaus zur Verfügung gestellt hatte (1830). Die Kinder trugen Anstaltskleidung, das Essen war einfach, die Schule streng, die Mitarbeit auf dem Bauernhof selbstverständlich, die Zucht und die Strafen hart, die Berufs- und Lebensperspektiven düster. Es fehlte immer an Personal. Vom Hausvater wurde Unmögliches verlangt: Er war Heimleiter, Lehrer und Bauer zugleich. Seine Frau nahm, -wie es einmal in den Akten heißt- „die 80 Waisenkinder zu sich in die Familie auf“. Die weiteren Angestellten sind schnell aufgezählt: Ein Stallknecht, ein Tagelöhner, eine Näherin, eine Küchenmagd, eine Stallmagd und hin und wieder ein Lehrergehilfe.
1902 stellte die Medizinalvisitation völlig unzureichende Verhältnisse in der Marienpflege fest. Bereits in der ersten Sitzung des Verwaltungsrats, bei der Kaplan Eberhard mitwirkte, kamen diese Verhältnisse zur Sprache. Die sanitären Einrichtungen seien unzumutbar, die Schulräume ungenügend, die Unterbringung der Kinder schlecht. Man beschloss, die alten Klosterräume gründlich zu sanieren. Zuvor jedoch sollten die Eigentumsverhältnisse des Anstaltsgebäudes geklärt werden. Die Regierung in Stuttgart lehnte jedoch nicht nur eine Schenkung, sondern auch den Verkauf des Klosters kategorisch ab. Unter diesen Umständen spielte der Verwaltungsrat mehrmals mit dem Gedanken, das Waisenhaus überhaupt aufzugeben, da eine Fortführung zum Wohl der Kinder nicht mehr zu verantworten sei. Schließlich fand sich ein Ausweg.
Man kaufte das benachbarte Grundstück und erstellte darauf in den Jahren 1907 und 1908 das heutige Hauptgebäude. Wenn man weiß, mit welchem „Gottvertrauen“ man da an Werk ging, kann einem heute noch ein wenig das Gruseln kommen. Der Bau kostete damals die schwindelerregende Summe von 16.500 Mark. Eigenmittel waren praktisch keine vorhanden. Trotzdem begnügte man sich nicht mit einer billigen Zwischenlösung, sondern strebte die damals als optimal angesehene Generallösung an. Finanziert wurde neue Gebäude durch ein Legat der Prinzessin Marie, einen Staatszuschuß, einer Lotterie und vielen Spenden. Das Gebäude wurde 1907/1908 im Jugendstil errichtet und bildet seitdem den dominierenden Abschluß der Marienstraße nach Süden.
Kaplan Eberhard hat alle diese schweren Entscheidungen mitverantwortet. Ich bin überzeugt, dass er die anderen Herren vom Verwaltungsrat immer wieder ermutigte, das großzügige Gebäude zu erstellen. Denn er erlebte die Not der Waisenkinder fast täglich aus nächster Nähe, da er als Religionslehrer alle Kinder persönlich kannte.